Fragilitas.
Post/pandemische Zeiten im Zeichen der Zerbrechlichkeit
Essay von Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela
Einem winzigen mit unserem Auge nicht sichtbaren Virus gelang es, unser aller Leben auf den Kopf zu stellen. Viele strauchelten, einige bewahrten einen kühlen Kopf; viele verloren sich in Angst, andere liessen sich berühren, waren angerührt. Menschen starben, viele von ihnen allein und unter grausamen Bedingungen: auf den Strassen Delhis, auf den Intensivstationen Mailands.
Unser soziales Leben ist ein fragiles Gebilde, unsere Körper sind zart und porös, unser Geist und unser moralisches Urteilsvermögen zuweilen unglaublich schwach. Die Pandemie, die unser Leben plötzlich bestimmte, wirkte wie ein Fragilitätskatalysator. Wir konnten Dinge sehen, die wir uns sonst zu sehen ersparten, während das, was uns unsere (soziale) Kurzsichtigkeit in normalen Zeiten nicht sehen lässt, glasklar erschien. Geprüft wurden auch unsere sozialen und ethischen Reflexe: Geht es nur um mein Wohlbefinden, um meine Mobilität? Was ist wichtig in Anbetracht der Katastrophe? Wie schlecht geht es mir wirklich? Bin ich in der Lage, global zu denken, oder genügt meine lokale Solidarität? Was tue ich in Anbetracht der Gewalt, die sich an den Grenzen Europas entfaltet?
In post/pandemischen Zeiten wird es darum gehen müssen, eine Politik der Starken und der Ignoranz zu überdenken, die die eigene Fragilität nicht wahrhaben will und deswegen ausgrenzend argumentiert sowie gewalttätig agiert. Ein post/pandemisches Leben verweist auf die Notwendigkeit, mörderische Assemblagen nicht nur zu analysieren, sondern in diesen zu intervenieren. Wie hängen Pandemien mit einem räuberischen Kapitalismus, dem Kapitalozän, zusammen? Wie der Virus mit unserer Lebensweise?
Eine der schmerzhaften Erkenntnisse in pandemischen Zeiten war, dass die Regierungen Europas sich so lange so wenig um den Bereich gekümmert haben, der in Anbetracht unserer körperlichen Fragilität doch so wichtig ist. Geradezu respektlos wurde mit dem Care-Bereich umgegangen: unterbezahlte Pflegekräfte, unterbesetzte Intensivstationen. Wir verstehen nun, was wir vorher schon wussten, aber nicht besprechen wollten: Es sind jene besonders ausgebeuteten Menschen, die die sozialen Infrastrukturen aufrechterhalten. Während der Pandemie waren sie es, die tagtäglich ihre Gesundheit aufs Spiel setzen mussten, um uns alle zu versorgen: Pfleger*innen, Arbeiter*innen in den Supermärkten, Menschen, die bei der Müllabfuhr und bei Lieferdiensten arbeiten. Die graue Masse, die die Städte am Leben erhält. Homeoffice war für diese Menschen keine Alternative. Es war eher umgekehrt so, dass diese den Mittel- und Oberschichten das Homeoffice ermöglichten und uns alle versorgten.
Nicht einmal das Sterben ist gerecht. Die Bedrohung, an dem Virus schwer zu erkranken und daran zu sterben, ist denkbar ungleich verteilt. In den USA sind wesentlich mehr schwarze Menschen gestorben; in Brasilien traf es ebenfalls mit besonderer Härte die schwarze Bevölkerung, aber auch die Communities des Amazonas. Auch in Indien wurden Millionen von Menschen, die in den Städten plötzlich nicht gebraucht wurden, dazu gezwungen, zurück in ihre Dörfer zu gehen. Nicht wenige starben auf den langen Märschen. Die Züge und Busse waren überfüllt und die Hitze unerträglich. Auch für Europa müssen wir konstatieren, dass die Fragilität des demokratischen Systems diejenigen zurücklässt, die besonders verletzlich sind. So fanden sich auf den Intensivstationen der Schweiz und Deutschlands hauptsächlich Menschen mit niedrigen Einkommen sowie aus migrantischen Communitys. Überhaupt Intensivstationen: eine Errungenschaft moderner Gesellschaften, die auch für die zu einem Bild des Horrors wurden, die zuvor keine Erfahrungen damit gemacht hatten. Während der Pandemie bedeutete Intensivstation der Kampf ums Überleben ohne die Berührung und trostspendenden Worte von Freund*innen oder der Familie. Geworfen ins Alleinsein und der kalten Hightech-Medizin ausgeliefert.
Vor der Pandemie gab es kein Glück, keine Gerechtigkeit und keine Harmonie. Das Kapitalozän zeigte schon lange die Folgen seiner Bösartigkeit: Klimawandel, Zerstörung von Leben, Ausweitung subalterner Räume, Vermehrung von Armut etc. Der Nekrokapitalismus trifft in erster Linie das vernachlässigte, ja nicht mal als schützenswert geltende Leben. In den Hauptstädten Europas, wo Stahl und Glas glänzen, leben diejenigen, die es sich leisten können. Das verworfene Leben findet sich in den Peripherien: lokal und global.
Post/pandemische Zeiten nötigen uns, den Schutz des eigenen Lebens in einen Zusammenhang mit dem Sterben der anderen zu stellen. Betrachten wir etwa die ungleiche Verteilung der Impfstoffe zwischen dem globalen Norden und Süden. Immer wieder wird betont, dass die Pandemie erst dann besiegt werden kann, wenn auch genügend Impfstoffe bei den Ärmsten der Armen ankommen. In einer unkontrollierten pandemischen Situation ist kein Leben sicher, wenn nicht zumindest versucht wird, alle Leben zu retten. Das Versagen ist grandios. Während Europa überlegt, Jugendliche zu impfen, sind in einigen Ländern Afrikas nicht einmal die Menschen geimpft, die in der Gesundheitsversorgung tätig sind. Indien hat nicht genügend Rohstoffe für die Herstellung der Impfstoffe.
Erneut müssen wir beobachten, dass Pandemien immer an den Körpern der anderen kleben. Als der französische Staatspräsident Emmanuel Macron dem Virus den Krieg erklärte, wurde dieser im Diskurs von einem «unsichtbaren Feind» zu einem «sichtbaren», personifiziert durch die menschlichen Körper, die als nicht dazugehörend markiert wurden. Es sind die anderen, die das Virus und seine beängstigende Präsenz verkörpern. Zu Beginn der Pandemie war es noch die gesamte asiatische Community, die für den Ausbruch verantwortlich gemacht wurde. So waren es zunächst vietnamesische und chinesische Restaurants, die die Folgen der Pandemie zu spüren bekamen, und wir erinnerten uns an die alten rassistischen Bilder, die von der «Gelben Gefahr» sprechen. Dieser anfängliche Verdacht wurde schnell auf Migrant*innen im Allgemeinen, Sinti*ze und Rom*nja sowie Juden und Jüdinnen im Besonderen ausgeweitet. So wurden in den medialen und digitalen Öffentlichkeiten arabische und türkische Hochzeiten und migrantische Saisonarbeiter*innen für die unkontrollierte Verbreitung des Virus verantwortlich gemacht. Der gutsituierten Minderheit gelang es erneut, die Gefahr und das Böse zu externalisieren.
Post/pandemische Zeiten müssen sich den Monstern und dem Monströsen stellen. Warum werden einige Körper als verletzlich und/oder dämonisch wahrgenommen und andere als normal, mithin als stark und ohne Selbstschutz und Selbstsorge auskommend? Der hegemoniale Umgang mit dem, was als monströs und damit ausserhalb des Normalen betrachtet wird, deutet auf den Unwillen, sich mit der eigenen Fragilität auseinanderzusetzen. In Konsequenz führt dies zu einer Exklusion von Körpern und Leben, die als verletzlich und/ oder monströs markiert werden. Das Monströse ist jedoch nicht im Aussen lokalisiert, so sehr wir dies auch begehren. Unsere Körper sind monströs und porös, und das Böse ist nicht irgendwo da draussen, sondern bewohnt uns.
Der Ausbruch von Covid-19 führte uns auch vor Augen, dass die zunehmende Dominanz digitaler Technologien unser Leben erleichtert, sicherer macht, aber eben auch verletzlicher. Technologien, die uns das Gefühl von physischer menschlicher Nähe geben, selbst wenn die physische Distanz enorm ist, können uns vor Einsamkeit retten. Doch digitale Endgeräte, die wir täglich rund um die Uhr benutzen, sammeln auch unendlich viele Informationen über unser Leben. Unsere Gewohnheiten, unsere Ansichten, unsere körperlichen Prozesse, unsere Empfindungen werden zu Daten. Daten, die genutzt werden, um uns zu beeinflussen. Daten, die uns der Manipulation und Kontrolle aussetzen. Wir steuern auf eine Welt und ein Leben frei von Geheimnissen und voller Gerüchte zu.
Die Tatsache, dass wir während der langen Lockdowns viel Zeit zuhause verbrachten und auch mehr Zeit im Netz, eröffnete neue Möglichkeiten für die rasante Verbreitung von Desinformationen, Hassreden und Verschwörungsideologien. Die Pandemie wurde von rechten Gruppierungen im Netz geradezu gefeiert, denn die Krise zeige, dass Globalisierung und der damit einhergehende «Multi-kulturalismus» wie auch die liberale Gesellschaft nicht mehr zu unterstützen seien. Digitalität ist Pharmakon: Medizin und Gift. Gift, das zur Medizin wird, und giftige Medizin. Diese Unentscheidbarkeit ist es, die das Leben wie auch die Politik, die Körper und Kollektive in Fragilität ummantelt. Das, was uns schützt, kann uns töten. Antivirenprogramme können Computer infizieren, und jeder Versuch, selbst über alle Zweifel erhaben zu sein, könnte den Todesstoss bedeuten.
Ein post/pandemisches Leben lässt jede grell leuchtende, bunte Zukunftsfantasie falsch erscheinen. Die Ungewissheit und das Fragen dominieren. Werden wir diese Pandemie überleben? Werden die Impfstoffe uns vor den neuen Mutationen schützen? Wenn es kein Zurück gibt, was kommt danach? Die Grenze zwischen Wissen und Unwissen ist unsichtbar und nicht stabil. Die Unbestimmtheit der Zukunft angesichts der technologischen und ökologischen Transformationen macht uns nicht zufriedener, sondern erschreckt uns, weil unser Leben so fragil erscheint, wie es nun einmal ist. Die organischen oder technischen Viren können jederzeit die menschliche Ordnung auf den Kopf stellen. Der Unfall und das Ende sind Bestandteil unserer aller Leben. Sie zu überwinden, ist nicht möglich. Im Gegenteil, wir müssen Wege finden, wie wir mit dieser Fragilität leben können. Dafür müssen wir wohl der Brüchigkeit sozialer, ökologischer und technischer Verbindungen zwischen humanen und nichthumanen Entitäten ins Auge schauen. Viren kennen keine Grenzen, sie springen von Spezies zu Spezies und überqueren mithilfe von Wirtskörpern Ozeane und Kontinente. Unser Wissen, die Produktion von Statistiken beruhigen nur scheinbar. Wissen – und mehr noch Zahlen – sind immer angreifbar.
Die Lage ist ernst: Ohne kontrapunktische Perspektiven, die es erlauben, unterschiedliche Stimmen zu hören, werden wir als Spezies Mensch nicht überleben. Wir sitzen nicht alle im selben Boot: Das Virus bedroht uns in sehr ungleicher Weise. Eine Politik der Stärke hat eine Nekropolitik hervorgebracht, die zynisch das Sterben der anderen hinnimmt. Es ist Zeit, die Fragilität unseres Lebens, die Abhängigkeit von den anderen anzuerkennen und umzulenken hin zu einer Politik der Fragilität, die soziale, aber auch eine kognitive Gerechtigkeit fordert. Vielleicht kann uns die Kunst helfen, die zarten Töne und die Stimmen des Dazwischen zu hören, die Widersprüche und Ambivalenzen auszuhalten und auch die Stille. Vielleicht.
Fragilität und Kraft – wiederständiges Leben im künstlerischen Programm
Themen der Fragilität, der Grenzen und der gegenseitigen Abhängigkeit menschlicher Körper und Gemeinschaften ziehen sich auch durch das internationale Festivalprogramm. Hier erfahren Sie mehr dazu.
Talking on Water – Live auf der Bühne und im Stream
Die Vortragsreihe «Talking on Water» ist seit 2018 fester Bestandteil des Festivalprogramms. Gerade angesichts der gesellschaftlichen Erfahrungen der vergangenen anderthalb Jahre ist es jetzt wichtig, sich wieder Zeit zu nehmen, um zuzuhören und darüber nachzudenken, in was für eine Zukunft wir als Teil einer planetaren Gemeinschaft steuern (wollen). Dabei helfen uns in diesem Jahr zwei herausragende Denkerinnen des Politischen in einer postkolonialen Welt. Am 21. August spricht Françoise Vergès über dekolonialen Feminismus im Kontext der Pandemie und der globalen Umweltkrise. Am 29. August setzt Shalini Randeria mit ihrem Vortrag den Diskurs über die «Pandemie der Ungleichheiten» fort. Die beiden Vorträge finden dieses Jahr in der Spielstätte Nord auf der Landiwiese statt sowie online via Live-Stream.
Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela
Yener Bayramoğlu wurde 1984 in Istanbul geboren, wo er Medien- und Kommunikationswissenschaft studierte. Er promovierte an der Freien Universität Berlin; seine Forschungsergebnisse erschienen 2018 im transcript Verlag unter dem Titel «Queere (Un-)Sichtbarkeiten». Aktuell arbeitet Bayramoğlu als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Alice Salomon Hochschule Berlin.
Die spanische Politikwissenschaftlerin María do Mar Castro Varela ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Ihr gemeinsam mit der indischen Wissenschaftlerin Nikita Dhawan verfasstes Buch «Postkoloniale Theorie – Eine kritische Einführung» erschien 2005 im transcript Verlag und gilt als Standardwerk.
Bayramoğlus und Castro Varelas Forschungsinteressen sind vielfältig, sie treffen sich unter anderem in den Queer Studies, der Postkolonialen Theorie, der Kritischen Migrationsforschung und Verschwörungstheorien. Die im hier abgedruckten Essay formulierten Ideen führen Bayramoğlu und Castro Varela in ihrem gemeinsam verfassten Buch «Post/ pandemisches Leben – Eine neue Theorie der Fragilität» aus, das voraussichtlich am 27. Oktober 2021 im transcript Verlag erscheint