CHRYSTÈLE KHODR

Rise and fall of Orient Swiss – Bedtime Stories

«Alles, worauf die Libanesen stolz sind, kommt von Youssef Beidas … Alles das, was Wert hat – Youssef hat es geschaffen und das kann niemand bestreiten.»
 – Wadad Beidas

«Die Schweiz ist keineswegs wie der Libanon. Die Schweiz hat keinen Hafen.»
 – Chrystèle Khodr

 

Am Abend des 4. August 2020 explodierte im Hafen Beiruts eine sehr grosse Menge Ammoniumnitrat. Die Druckwelle der Explosion verursachte über Kilometer hinweg schwere Schäden an den Gebäuden und der Infrastruktur der Stadt. Hunderte Menschen starben, tausende wurden verletzt und obdachlos. Die ohnehin beispiellose Nahrungsmittel- und Wirtschaftskrise im Libanon wurde durch die Katastrophe noch verstärkt. Die Bilder der gewaltigen Getreidespeicherruine im Hafen der zerstörten Stadt gingen um die Welt.

Fast ein Jahr nach der Katastrophe sprach Chrystèle Khodr in Beirut den Text für dieses Hörstück ein, in welchem sie der Legende von der «Schweiz des Orients» nachgeht. Denn so wurde der Libanon in den 1950er und 1960ern bezeichnet. Das Eigenartige sei jedoch, so Chrystèle Khodr, dass viele Menschen im Libanon noch heute von dieser «Schweiz des Orients» schwärmen, die es – trotz Bankgeheimnis – nie wirklich gegeben hat. Mitverantwortlich dafür könnte der bekannte palästinensisch-libanesische Geschäftsmann und Bankier Youssef Beidas zu machen sein, dessen Bemühung es zeitlebens war, Beirut als Handels- und Finanzzentrum des Nahen Ostens auszubauen. 1951 gründete er Intra Bank – einst die grösste Bank im Libanon, deren kontroverser Bankrott im Jahr 1966 einen langen Schatten bis in die Gegenwart wirft und noch heute das kollektive Gedächtnis (und Vergessen) prägt.

Das Hörstück folgt der Spur Youssef Beidas’ vom Beirut der 60er bis zu seiner Festnahme in der Schweiz und zu seinem Grab in Luzern. Mal zärtlich, mal spöttisch, mal fast schon mechanisch erzählt Khodr von damaligen und heutigen Krisen. Sie berichtet aus ihrem Alltag in einem Land, in dem Menschen stundenlang vergebens vor der Bank um Geld für Miete und Nahrung anstehen, von Gesprächen mit Freund*innen in der echten Schweiz, die ferner scheint denn je, oder von den Stunden vor der Explosion, an einem ganz normalen Tag inmitten des andauernden Zerfalls. Am Ende kehrt ihre Erzählung zurück zu den bröckelnden Überresten der Getreidesilos im Hafen Beiruts, die – einst erdacht von Youssef Beidas – immerhin zur Hälfte standhielten und einen Teil der Stadt vor grösserer Zerstörung abgeschirmt haben. (mr)

 

Chrystèle Khodr ist Theatermacherin, Schauspielerin und Autorin. Sie lebt in Beirut. Zusammen mit dem Regisseur Waël Ali entwickelte sie das Theaterstück «Temporary Stay», mit dem sie 2019 beim Zürcher Theater Spektakel zu Gast war. Ihre jüngste Bühnenproduktion «Augurs» feierte im Mai 2021 in Beirut Premiere.